Entstanden im Workshop "Wort&Wirkung" mit Oliver Bukowski, Ludwigsburg Juni 2020
Auszug: Szene 1

DIE KLEINE MEERJUNGFRAU
Ich will ja eigentlich gar nicht für die Liebe sterben. Ich will ja eigentlich gar nicht sterben. Ich hatte ja eigentlich alles was ich haben wollen könnte. Ich hatte ja eigentlich die Unendlichkeit und die Freiheit und die Schönheit und die ewige Jugend und das Meer und die Tiefe und die Kälte. Ich will das ja eigentlich gar nicht alles opfern müssen. Ich will eigentlich gar kein Opfer bringen. Ich habe doch eine schöne Jugend. Und ich habe doch ein Talent. Muss ich das wirklich alles aufgeben müssen? Ist das so in der wirklichen Welt? Ich bin ja kein Teil der wirklichen Welt wie manche andere. Bin ich eigentlich eine Frau, frage ich mich manchmal. Ich habe ja nicht das Geschlecht oder die Fähigkeit zu gebären oder so. Ich kann ja nicht einmal Lust empfinden. Kann ja nicht einmal sagen wie sich das anfühlt, so ein Kribbeln im Bauch oder so ein Schmerz in der Brust. Ich kann ja auch nicht bluten einmal im Monat oder wie auch immer das funktioniert. Ich habe ja nichts, was eine Frau per Definition ausmachen könnte. Und so... funktioniert das doch, oder? Ich verstehe das alles nicht so gut. Das ganze Problem. Ich verstehe ja die Liebe nicht einmal wirklich. Oder Macht. Ich verstehe eigentlich nur Freiheit. Und Schönheit. Und ewige Jugend. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich betroffen bin von dem Problem. Vielleicht bin ich weniger eine Frau als eine Fantasie. Eine schöne Fantasie. Und eine gefährliche Fantasie. Also irgendwie bin ich schon die Fantasie eines Mannes. Aber irgendwie fehlt mir doch der Schlitz zwischen den Beinen. Also bin ich als Fantasie vielleicht auch überbewertet? Ich bin mir nicht sicher, was eigentlich mein Zweck ist auf der Welt. Ich bin mir auch nicht sicher wie weit ich gehen darf. Irgendwie gelten ja andere Regeln für mich. Ich weiß gar nicht wirklich, was ich machen soll oder was ich machen kann. Welchen Handlungsspielraum habe ich eigentlich? Welchen Handlungsraum habe ich eigentlich? Zu wem gehöre ich eigentlich? Wie viele gibt es davon eigentlich? Wo komme ich eigentlich her? Habe ich einen Namen? Habe ich ein zu Hause? Wie ist es da eigentlich unter dem Wasser? Gibt es da ein Bett in dem ich schlafe? Gibt es da einen Tisch an dem wir essen? Oder sitzen wir nur den ganzen Tag auf einem Felsen und kämmen uns das Haar und singen vor uns hin und sehen bezaubernd aus? Und wie genau lieben wir uns eigentlich? Kann ich überhaupt lieben? Vielleicht muss ich deswegen bald sterben? Vielleicht muss ich deswegen alles opfern, was ich habe und kenne und meine Freunde und meine Hobbys und meine Arbeit und zu ihm gehen. Vielleicht liebe ich einfach anders als eine gewöhnliche Frau? Vielleicht hat die andere Frau eine Wahl in wen sie sich verliebt und warum? Und ob sie mit ihm mitgeht und warum? Und vielleicht kann sie wieder gehen, wenn er sie nicht liebt? Vielleicht liebt die normale Frau ja auch eine sie? Vielleicht kann sie das? Vielleicht kann sie auch mal nicht schön sein? Oder nicht frei sein? Oder beides? Vielleicht kann die normale Frau ja auf die Suche nach Antworten gehen? Oder auf die Suche nach Lösungen? Vielleicht kann sie sich selbst ermächtigen? Ich kann das leider nicht. Und das ist ja auch okay so. So ist das eben mit dem Fantasy, da muss man einfach mitmachen. Da muss man einfach mitspielen. Wenn man zu viele Fragen stellt, funktioniert das nicht mehr mit dem Fantasy. Man muss da schon echt etwas auffahren, um noch jemanden zu beeindrucken. Unverhältnismäßige Portionen von Gewalt zum Beispiel. Oder eine unverhältnismäßige Portion Liebe. Nicht, dass die Liebe heutzutage noch ein Top-Seller zu sein scheint. Also wenn, dann eine Liebe, die tragisch endet. Vielleicht zwischen einer Meerjungfrau und einem Prinzen. Und am Ende muss sie sterben, weil sie ihn nicht haben kann. Das macht ja auch irgendwie Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Es gibt ja sonst nichts zu mir zu sagen. Ich habe ja sonst kein Leben oder keine Interessen oder sowas. Alles was ich über mich weiß ist, dass ich diesen Mann liebe.
Back to Top